Zweiter Akt
Von Claudia M. Kraml
Ein paar Stunden zuvor war die Welt
noch in Ordnung gewesen. Jedenfalls für Franz, der sich nach den
zeitaufwändigen Vorbereitungen am vergangenen Tag bereits auf den Beginn des
diesjährigen Rossfestes freute. Er liebte das gesellige Treiben, gemütliche
Beisammensitzen und die allgemeine fröhliche Stimmung bei dieser Veranstaltung,
die das ganze Dorf mit vereinten Kräften auf die Beine stellte. Dabei konnte
man sich auch gut von Dingen ablenken, von denen am liebsten überhaupt nichts
wissen möchte. Beziehungsweise von solchen, die man niemals hätte tun wollen.
Nur sein Unterbewusstsein, Gewissen,
oder wie man es auch immer nennen mochte, ließ sich nicht durch diese
oberflächliche Zuversicht beruhigen. Deshalb hatte er wie so oft in letzter
Zeit mit Schlafproblemen zu kämpfen - und genau die waren auch schuld daran,
dass er schon seit dem Sonnenaufgang um 5 Uhr wachgelegen war. Schließlich
hatte er beschlossen, sich sinnvolleren Beschäftigungen als dem Anstarren der
vergilbten Zimmertapete zu widmen, und war endgültig aufgestanden.
In seiner heruntergekommenen Wohnung
gab es nämlich so einiges zu tun. Das Haus lag am Waldrand, in der wohl
einsamsten Gegend Berghofens und damit weit genug vom Rest des Dorfs entfernt,
um schon einmal übersehen zu werden. Auf den ersten Blick hätte man jedenfalls
nicht vermutet, dass sich hinter der gewundenen Försterstraße noch ein Gebäude
befand. Vor Jahren hatte es der damalige hochbetagte Besitzer vor dem Umzug ins
Altersheim um einen Spottpreis zum Verkauf angeboten. Das war Franz, der damals
nach einem weitgehend erfolglosen Ausflug in den osteuropäischen Untergrund
zurückgekehrt war, natürlich sehr gelegen gekommen. Schließlich eröffnete ihm
diese Abgeschiedenheit ungeahnte Möglichkeiten!
Als es um halb acht Uhr an der Tür
läutete, hielt er erst einmal ziemlich erschrocken inne. Besuch war er nur in
Maßen gewohnt, und schon gar nicht in aller Herrgottsfrühe! Zu seinem Pech
hatte er gerade ein Acrylgemälde mit ländlicher Idylle aufhängen wollen, sodass
dieses unverzüglich auf seinem linken Fuß landete.
“Aaaaaaau!!!”, hallte es daraufhin
durch die ganze Wohnung, und dann folgten einige Schimpfwörter, die noch nie in
irgendeinem anderen Landesteil zum Einsatz gekommen waren. In dieser Hinsicht
war Franz eben sehr kreativ. “So a bleds Glumpat!”, stöhnte er immer noch,
während er sich vor Schmerzen am Boden krümmte. Weil der morgendliche Gast
derweil nicht damit aufhörte, an die Haustür zu hämmern, musste er sich aber
bald wieder aufraffen. Mittlerweile war der Unbekannte schon dazu übergegangen,
vor sich hinzureden, und zwar laut genug, dass es Franz verstehen konnte:
“Heast, woa do scho oana schneller ois i? Oda wieso mocht der ma ned auf?”
Und diese Stimme kam ihm sogar vage
bekannt vor. Gerade so, als hätte er sich noch gestern mit ihr unterhalten.
“Jo wos isn do los, hod erm jetz
leicht doch noch de Schlofkronkheit gepockt… Ah, do bist jo endlich, Franz!”
“Karl?! Wos willst du in olla Fruah?
Is irgendwos schiefgrennt? Jezt kumm amoi eina!”
Der Gemeinderat, schon mit seinem
Festtagsgewand bekleidet, trat langsam ein und sah sich erst einmal genau um.
“Na, na, wegen der Soch brauchst da
koane Sorgn mochn, do klappt ois perfekt. - Oba sog amoi, is eh neamt bei dir?”
Zusammen betraten sie das
Wohnzimmer, das nun eher einem Schlachtfeld glich.
“Spinnst? So bled bin i jo doch ned,
dass i do oanfoch irgendwen einaloss… Außadem kummt eh nie wer. I hob nur grod
a weng umanondagwerkt.”
Karl betrachtete anerkennend die
Nische in der Wand, über der durch den Bildernagel eine leichte Kerbe
entstanden war. Oder, besser gesagt, dessen Inhalt. Sein Komplize war nämlich
gar kein Kunstliebhaber, sondern die ländliche Idylle diente nur einem Zweck:
Er wollte damit die beachtliche Ansammlung an Zeitungsartikeln verdecken, die
über Fiona Falkners Verschwinden, den Leichenfund und die darauffolgenden
Ermittlungen berichteten. “Wissen ist Macht”, hatte ihm Karl schon bei seiner
Rückkehr nach Berghofen erklärt, denn man müsse auch immer ganz genau über den
Kenntnisstand seines Feindes informiert sein. Und wo gäbe es ein besseres Versteck
für diese informativen Dokumente als in einem so einsamen Gebäude? Insgeheim
war Franz auch froh darüber, vom Gemeinderat nicht mehr für so “deppat”
gehalten zu werden wie zu Beginn des “Unternehmens Fiona”. Nur, weil er mit ihr
im Osten keinen Erfolg gehabt hatte und vielleicht auch allgemein ein bisschen
empfindlicher war als andere Leute, die in dieser Branche arbeiteten…
“Der Schoden wird ah bold behoben -
des hoaßt, sobald i in Nagel wieder find. I wollt nämlich des oide Bild gegen a
größeres austauschen, nur zur Sicherheit. Wos host du eigentlich damit gmoant,
dass do wer schneller woa ols - “
Karl machte eine wegwerfende
Handbewegung. “Des woaß i goa nimma. I red jo vü, wenn da Tog long is. Also, i
bin kumma, weil i di einlodn wollt. Bevor des Rossfest so richtig onfongt und
ma nirgends mehr in Ruhe reden konn, solltn ma uns noch amoi über unsere
nächsten Schritte unterhoitn… Und des könntn ma jetz bei an gemütlichen
Frühstück beim Horst mochn.”
“Franz, es gibt oanigs, wos du ned
woaßt. Jednfois gfreiat i mi recht, wennst mitkummast. Es wird außerdem Zeit,
dass ma ah moi über a weng persönlichere Sochn redn.”
Der Angesprochene wusste außerdem
noch nicht recht, was er vom plötzlichen Stimmungsumschwung des Gemeinderats
halten sollte. Normalerweise gab sich dieser immer als harter Zeitgenosse, der
nicht unbedingt viel Wert auf angenehme Beziehungen mit seinen Komplizen legte.
Nur im Umgang mit dem unbescholtenen Teil der Dorfbewohner, da war er sehr auf
Freundlichkeit bedacht.
“Oba de Zeitungsartikel, de kau jo
jeder sehn…”
“A geh, do wird jetz ah grod koana
vorbeikumma und bei dir einbrechn. Los, gehn ma, da Horst woat ned ewig!”
Damit verließen sie Franz’ Haus und
spazierten einträchtig die Forststraße entlang. Natürlich unterhielten sie sich
währenddessen nur über unverfängliche Themen wie etwa die Bierqualität beim
Rösser Sepp, denn man konnte ja nie wissen, wer sich im Gebüsch zu beiden
Seiten des Weges so herumtrieb.
In der Kurve, bevor dieser wieder
auf eine etwas breitere Landstraße überging, deutete Karl allerdings auf einen
kaum sichtbaren Waldsteig, der aufwärts führte.
“I kenn do a Abkürzung, durch de ma
zum Horst kemman, ohne dass uns irgendwer im Dorf beobochtn kau. Es geht do
long, dann - “
Ein helles Lachen ließ ihn
schlagartig verstummen. Mit einem Mal alles andere als gut gelaunt und
unbekümmert, drehte er sich wieder um und starrte mit großen Augen die beiden
Buben an, die sich ihnen von der Landstraße her näherten. Diese ließen sich
jedoch nicht von seinem finsterem Blick beeindrucken und schnatterten munter
drauflos.
“Wer seits denn ihr?” Ebenso
irritierend wie ihre bloße Anwesenheit fand Karl die Tatsache, dass sie völlig
gleich aussahen und ebenso angezogen waren.
“I bin da Terzel…”, meinte der eine,
“... und i da Sprinz”, vervollständigte der andere. “Wos oba eigentlich eh
wurscht is, weil uns kau koana unterscheiden. Eineiige Zwillinge eben.”
“Und wos mochts do?”
Nachdem die etwa zwölfjährigen Buben
einige Male hintereinander den Platz gewechselt hatten, konnte er schon wieder
nicht sagen, wer ihm jetzt antwortete.
“Mia solln fia unsa Mama Pilze
suachn, fias Mittagessen. In der Richtung wird da Woid immer dichter und
dunkler, do hom ma uns docht, dass do eigentlich besonders guat wochsn
miassatn.”
Karl war inzwischen eiskalter
Schweiß ausgebrochen. Um das Zittern seiner Hände zu verbergen, verschränkte er
sie fest ineinander, sodass es beinahe aussah, als würde er beten. “Oba… sollts
ihr ned eigentlich in da Schui sein?”, fragte er zögerlich, wobei ihm seine
eigene Stimme völlig fremd erschien.
Derjenige, der zumindest seiner
Vermutung zufolge Sprinz war, lachte erst einmal. “Oba mia hom doch Ferien! Hom
ma um de Zeit immer! Bei dir is wohl ah schon a länger aus, dassd in d Schui
gonga bist?”
Normalerweise hätte der Gemeinderat
die Kinder bei derartigen Frechheiten erst einmal auf seine hohe Position
hingewiesen und ihnen dann mit den schlimmsten vorstellbaren Konsequenzen
gedroht. Normalerweise, das hieß, wenn er sich nicht gerade selbst wie ein
zitterndes Häufchen Elend gefühlt hätte. Zum Glück ließ ihn sein
Einfallsreichtum auch in dieser brenzligen Situation nicht im Stich.
“Des kinnat scho sein… Oba gonz wos
ondas: Des mitn Pilzesuachn kennts in dem Woid vergessen. Der ghert nämlich in
Hochwild Horst, und der vasteht koan Spaß, wenn a wen dawischt. Ihr wissts jo,
er hot immer sei Gewehr dabei…”
Wie erhofft wirkten die Zwillinge
plötzlich ziemlich kleinlaut und machten erschrocken einen Schritt zurück.
“... Oba in dem ondan Woidstück do
drübn”, er deutete sehr weit in die entgegengesetzte Richtung, “hob i erst vor
kurzem an riesigen Parasol gsegn. Und wo oana is, stehn meistens noch mehrere.
Oiso an eurer Stelle darat is liaba dort vasuachn…”
Terzel und Sprinz, die beide in den
letzten Sekunden etwas blässer geworden waren, bedankten sich artig für den
tollen Tipp und machten umgehend kehrt. Während die Buben schneller, als sie
gekommen waren, wieder um die Ecke verschwanden, atmeten sowohl Karl als auch
Franz tief aus.
“Des is jo noch amoi guat gonga. Und
jetz kumm, moch ma uns endlich aufn Weg!”
Und dieser Weg, der durch einen
schmalen Trampelpfad an Brombeersträuchern und anderem dornigem Gestrüpp,
vermoderten Holzstämmen und auch einigen Ameisenhäufen entlangführte, war zu
Franz’ Erstaunen sogar ziemlich lang. So sehr, dass er sich nicht mehr genau
daran erinnern konnte, wo nun welche der vier Himmelsrichtungen lag, geschweige
denn sein eigenes Haus oder das des Jägers. Wohin er auch blickte, war nur dichter,
dunkler Wald zu sehen, genau wie es Sprinz - oder Terzel - gesagt hatte.
“He Karl, bist da sicher, dass ma
uns do ned verlaufn hom? Abkürzung is des meina Meinung noch koane mehr!”
Der andere war während der
vergangenen Viertelstunde wieder merklich ruhiger geworden. “Na, do host schon
recht, irgendwo hom ma in foischn Weg gnumma. Oba i glaub mi zu erinnern, dass
ma do drübn ah wieder auf a Stroß kimmt - genau, bei der Buche muaßt vorbei.”
Franz, froh darüber, dass wieder
etwas mehr Sonnenlicht in Aussicht stand, beschleunigte seine Schritte. Nur
noch ein ein paar hundert Meter, er glaubte sogar schon, in einiger Entfernung
etwas Helles zu entdecken...
Einen Augenblick später hallte ein
markerschütternder Schrei durch den Wald. Nur erstreckte sich der nach allen
Seiten so weit, dass ihn kein einziger Dorfbewohner hören konnte. “Kaaaarl!!….
Aaaaaaah… Aaaaaaauuuu…. Mei Fuaß!! Des Eisen - es tuat so…. verdammt…. weeeh…”
Das Gesicht des Gemeinderats aber
wurde von einem boshaften Lächeln umspielt, während er sich zur Seite drehte,
um die genauen Auswirkungen der Bärenfalle nicht mitansehen zu müssen. “Des
gschieht da recht”, murmelte er, “jetz wirst neamt mehr wos gestehen kinna.
Weder da Polizei noch da Frida, fia de du di ah scho wieda vü zu sehr interessiert
host...”
Laut rief er: “Jo mei, Franz! Des
gibts doch ned, do hod doch tatsächlich wer a Falle aufgstellt! Woat, do herobn
gibts koa Handynetz, i renn owi ins Dorf und hol Hilfe. Hoit durch!”
Nachdem er aus der Hosentasche des
schon halb Besinnungslosen dessen Hausschlüssel genommen hatte, verließ er den
Ort des Geschehens wieder. Sein Ziel war allerdings zuerst Franz’ Haus; dann
würde er sich gemächlich zum Rossfest begeben, das mittlerweile bereits in
vollem Gange sein musste, und das Beste hoffen. Was in seinem Fall bedeutete:
Keine neuen Nachrichten.
Franz blieb derweil gefangen -
zuerst vor Schmerzen schreiend, dann keuchend und röchelnd um Gnade flehend,
und schließlich stumm wie ein Fisch.
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