Kapitel I - Wos liegt, des pickt - Vierter Akt

Was bisher geschah 


Vierter Akt

 Von Markus Peyerl

Die Trauergäste waren damals bald dagestanden und hatten dem Regen zugeweint wie Hilfsarbeiter, die ihrem Meister den Schraubenschlüssel reichen. Sie alle wollten Falkner aufgeschraubt sehen, das wusste er. Damit die Luft noch nasser wurde, damit die Bäche stiegen und stiegen und stiegen und stiegen, bevor sie dann fallen durften. Ins Loch, runter, an den Nägeln vorbei in den Sarg hinein, in dem seine Tochter da unten ertrinken sollte zu all ihrer Sicherheit.
                Die Angst hatten sie ja gemeinsam.
                Die Angst, dass gar noch nicht tot ist, was der Kitzbichler Karl dann vergräbt, für sich selbst vor allem.
                Für sich selbst vor allem, dachte Falkners Echo, dem als einziger der klare Rotz nicht Richtung Lippen nach unten lief, „Na, voam Tod hob' i kan Ongst net“. Das hatte er oft gehört, dort, zwischen Kirche und Wirtshaus, „Oba voa dem, dass i do untn lieg', und donn woch i auf, und donn is scho de Erdn drüba, und do dastick' i donn! Do hob' i scho an Ongst davoa, oba sunst?“
                Oba sunst?
                Und genau deshalb war Gabelsbrück auch vollzählig damals dann um das Loch erschienen, in dem seine Tochter da unten lag.
                Dort, um sie zu ertränken, noch bevor sie ersticken konnte, ersticken an der Erde, an der die Gabelsbrückler nur selbst nicht ersticken wollten.
                Dabei hatten sie Fiona schon lebend nie gekannt.
                Niemand, der da um sie weinte, kannte sie, am wenigsten noch der Pfarrer, dem sein Kreuz seelenruhig vor der Brust hing, selbst während er Falkner belog.
                „Oba seid's net traurig! Bei Gott, i, i sog' eich: De Fiona, de wird für imma mit uns in unsan Herz'n wohnan. Lob sei unsam Herrn, Jesus Christus. Jawoll!“
                Dank sei Gott, dem Herrn.
                Seine tote Tochter ertrank daweil da im Loch unten.
                Falkner kam das alles zu langsam vor.
                Es hörte sich auch so an.
                Es klang, als würde in seinem Kopf eine Sommersprosse mit  einer Haarnadel gegen die Wand fechten und verlieren, es klang viel zu hell, um nicht echt zu sein. Wie der Schatten seiner Nasenhaare, so kamen er dahergewalzt, der Trauerzug, die Raupe, schwarz auf schwarz, wie das Davor eines hässlichen Schmetterlings. So hörte Falkner, und so sah er das auch, aber noch dachte er, das würde sich geben.
                Aber rein mit dem Schäufelchen!
                Runter mit der Erde, ins tote Gesicht seiner Tochter.
                „Mein Beileid!“.
                Rein mit der Erde!
                Rein bis hinter den Kehlkopf.
                „Es tuat uns für se und ihre Famülie jo so lad, hean 'S, Herr Inspekta!“.
                Es stellte Falkner die Zehennägel auf bis zu den Wimpern.
                Herr Inspekta!
                Und er stand da, als dieses Mädchen mit dem neuen Kleid neben ihm auf den Boden saß, wie sie lieber fror, wie er nichts für sie tun konnte, wie hoch auch sein Dienstgrad.
                Falkner nickte, als sie seine Hand ausließ.
                Frida ohne Fiona, das schmeckte nach nichts, es war nicht mehr wie „Darf ich vorstellen: meine Töchter“.
                Er nickte.
                Falkner nickte, und er sah ihnen zu, wie es sie nur um sie selbst leid tat, und um niemand sonst. Wie Gabelsbrück hier um sich selber trauerte, wie die Unbeteiligsten aller Unbeteiligten aller Unbeteiligten hier an ihm vorbei zogen, mit sich selbst im Sarg. Da konnten sie noch so herumdrücken, bis ihnen das Kinn die Beherrschung verlor, es ging da um etwas, das nicht Fiona hieß, und nicht mehr ertrinken musste, weil da nur Narben waren, die ihre Lungen nicht brauchten.
                Sie weinten nur, weil sie weinen mussten, länger als lang schon, und sie einen Grund brauchten, weil ihnen ihr eigener nicht gefiel.
                Weil sie vor ihrem Grund zum Weinen noch mehr Angst hatten als vorm Amdreckersticken post mortem, noch viel mehr Angst, als vor etwas, nachdem sie gottseidank endlich tot waren, und er wusste, sie wussten das.
                Noch besser als er wusste, dass sie das wussten.
                Und umgekehrt.
                Sie hatten ihren Rotz, der ihre Lippen nach innen lief, aber der lief nur in ihr eigenes Loch, und für was immer da drinnen ganz unten lag.
                So sah Falkner das, und so klang das auch, und diese Frau stand mit ihm unterm Regenschirm.
                Er würde sie nie mehr sehen, würde er?
                Sie anschauen, und sehen, und sie, und nicht nur die Mutter einer Tochter, die ihm tot ertrunken war, vor ganz Gabelsbrück.
                Oder dieses Mädchen.
                Dieses Mädchen, das einmal Fionas Schwester gewesen war, das jetzt am Boden saß neben ihm, das weiter weg war als ganz weit weg, wie irgendwo hinter Russland.
                Er würde sie nie mehr sehen, würde er?
                Und nein.
                Er würde nicht.
Falkner versucht am Muttermalfoto den Fehler zu finden, seit zehn Minuten schon. Einen Fehler nur, einen falschen Winkel, einen harten Schwung, der nicht da hin gehört, aber alle sind da. Die sieben Muttermale, die sich drängeln oben am Gipfel von dem Knöchel, an dem Fionas Unterarm aufhört, und ihre Hand langsam anfangt.
                Angefangen hat.
                Es ist das Muttermal, vor dem sie ihr Hautarzt gewarnt hat wegen dem Hautkrebs.
                Es ist das Muttermal, das mit Fiona begraben worden war vom Kitzbichler Karl.
                „Du weißt schon, was das heißt, oda?“
                Krickel fragt das, ist sich aber sicher.
                „Ihr grabt's das Grab von da Fiona mitm Bagger auf? Damit nochamal drüben in Gabelsbrück alles ums Loch zamrennt?“
                Schweigen.
                Was Falkner als Antwort nicht reicht.

Cory Godbey

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